Seelig

Als ein Körper geschaffen wurde, stellte sich eine kleine Seele vor ihn, besah ihn als gut und fragte: „Und? Was hat dieses Menschenkind für eine Aufgabe im Leben?“
„Sie soll geduldig und voll Liebe sein!“, sprach es, „und daraus wird sie großen Erfolg ernten.“
„Oh, was eine schöne Aufgabe. Das übernehme ich gerne. Aber sag doch Gott/Universum/Allmutter/Übergewissen, das klingt so einfach. Ich kenne dich, wo ist der Haken?“
„Nun, sie wird auch analytisch sein, klug und ansehnlich.“
„Das soll eine Krux sein? Wer fühlt sich denn von intelligenten, schönen Frauen bedroht?“
„Sieh in die Geschichte, kleine Seele, sprach es.“


Die kleine Seele tat wie ihr geheißen, verstand, was gemeint war, und dann sagte sie: „Ja gut, nun denn wird sie sich denen nicht zuwenden. Du gibst ihr doch eine recht vorteilhafte Nationalität, in einer guten Zeit, lässt sie in einer wohlwollenden Familie aufwachsen, machst ihr Bildung und eigenes Geld zugänglich. Da braucht sie doch keine von jenen … du weißt schon: Männer. Sie wird sich einfach nur auf Frauen einlassen.“
Es lachte perfide und sodann sprach es: „Sie wird aber Männer lieben. Sie wird von ihnen angezogen und fasziniert sein. Wird sich sowohl körperlich als auch geistig zu ihnen hingezogen fühlen und das so stark, dass sie sich eines Tages dazu entscheiden wird, sie nicht zu hassen, trotzdem Männer ihr bis dahin allen Grund geben werden, es zu tun.“
„Hergottsack!“, stieß die kleine Seele aus, „hast du einen bösen Humor!“
„Nun“, sprach es, „lautet die Frage, kleine Seele: Willst du dieses Leben dennoch führen?“
Die kleine Seele ward aufgestachelt. Von jeher fühlte sie sich von schwierigen Aufgaben angezogen, scheute keinen Wettbewerb, strebte nach Ruhm. Und war nicht Erfolg das Ziel dieses Menschen? Und so sagte sie: „Natürlich übernehme ich das!“
„Also darfst du deinen Kampfgeist mit dir nehmen“, sprach es und dafür war die kleine Seele dankbar. Der würde ihr im rechten Moment noch gute Dienste erweisen. Er würde sie dazu bringen, auf ewig strebsam zu bleiben.

Aber etwas bange wurde ihr dann doch, als sie sah, dass sie fast 30 Jahre lang von Vaterfiguren, Brüdern, männlichen Freunden, Lehrern und Bezugspersonen im allgemeinen, und später Liebhabern immer wieder enttäuscht werden würde. 30 Jahre sind eine lange Zeit, zumal es die ersten, die prägendsten sind.
Die kleine Seele hatte schon in Körpern gewohnt, hatte Schlachten geschlagen, wurde verbrannt, geschändet, kannte Hunger, Vergeltungsdurst, hatte Königreiche untergehen sehen, hatte Familien verloren und neue gegründet. Doch all diese Erinnerungen würden ihr auch in diesem neuen Leben nicht zur Verfügung stehen. Sie musste alles neu lernen und all das würde furchterregend für sie sein, fremd und unvorhersehbar.
Sie sah schon die vielen verzweifelten Stunden dieses Menschenkindes, in denen es sich verlassen fühlte, verraten, dumm und wertlos. In denen ihre Bedürfnisse, ihre Person nicht ernst und angenommen wurde, in denen ihre Träume verlacht, ihre Erfolge verkannt wurden. In denen ihre Liebe nicht erwidert wurde.

Aber sie sah auch all die Kunst, die Schöpfung, die sie hervorbringen würde. Sie sah die Momente mit den wenigen, treuen Freunden, die ihr zur Seite gestellt werden würden. Sie sah, dass unter diesen Weggefährten ebenfalls Männer sein würden. Und sie sah, dass sie trotz alledem ihr Ziel nicht aufgeben würde und das Ziel auch sie nicht. Auf den Erfolg orientiert.
Ja, dazu braucht es Geduld und Liebe, dachte die kleine Seele. Ich werde klug sein, ich werde verstehen lernen, dass ich nur ernte, was ich säe. Dass es mir besser gehen wird, wenn ich mein Herz und meine Augen offen und dennoch meine Ellenbogen angewinkelt halte. Für diese Erkenntnis, nein, da sind 25 oder 30 Jahre nicht viel. Das lernen andere Seelen gar nie!

„Aber warum denn Männer? Warum denn immer die Männer? Wird ihr Leben nicht ausgefüllt und ihr Alltag geschäftig genug sein? Wird sie nicht genug andere Dinge zu tun haben? Künstlerische, schöpferische, selbsterfüllende?“
„Ja, wird sie! Wie verrückt sogar. Und dennoch wird ihr immer etwas fehlen. Denn dies Menschenkind wird überaus romantisch werden und Männer als Projektionsfläche wollen, weil sie Männer so sehr liebt. Sie wird sie so sehr haben wollen, dass sie lernen muss geduldig zu sein, um sie haben zu können.
Und bald wird sie ihren Frieden mit ihnen schließen.“