Ich binde mein Haar streng zurück, nehme die Brille ab und sehe etwas genauer hin als sonst. Im Spiegel blickt mich eine
28-jährige Frau an. Müde sieht sie aus, abgekämpft, aber zufrieden. So als hätte sie alles in allem eher siegreiche Kämpfe ausgetragen.
Vielleicht ein bisschen dünn würde ihre Mutter sagen. Es stimmt: Statt des ovalen Kuchengesichts, wie ich es immer genannt habe,
sehe ich relativ dominante Wangenknochen, ernste Züge, kluge Augen. Eine Denkfalte teilt ihre Stirn. Das viele Lesen, Arbeiten, Nachdenken hat ihren Blick etwas trübe gemacht und feine, rote
Äderchen neben den hellgrünen Iriden gezeichnet. Oft grübelt sie, spielt dabei mit ihren zumeist geradegezogenen Lippen, was dem Ganzen offenbar einen ziemlich ernsthaften Gesamteindruck
verschafft. Wenn sie lacht, umrahmen Fältchen, gleich einem Feuerwerk, ihre Augen, sehr weiße Zähne kommen zum Vorschein. Mit der Nase, sehr gerade, der Haut recht hell, dazu grüne Augen, sieht
sie typisch mitteleuropäisch aus.
Zwei weiße Haare sind mittlerweile in ihrer braunen Lockenmähne erschienen - mehr nicht. Für jedes publizierte Buch eines -
behauptet sie gerne.
Zusammengenommen ergibt das offenbar eine attraktive Erscheinung. Eine erwachsene Frau.
Als solche bezeichne ich sie erst seit Kurzem. Vielleicht wollte ich sie gerne hinter der Tatsache verstecken, dass sie doch noch
ein verspieltes Mädchen ist. Hatte gehofft, so würde sie größeren Schutz von außen erfahren. Aber das Leben hatte andere Pläne. Die Prüfungen summierten sich mit jeder gerade erst bestandenen;
ihr wurde schon lange keine richtige Ruhe gewährt. Irgendwie hat sie es immer geschafft.
Ihre Freunde schätzen sie für ihre Stärke, ihre Erfahrung, dass sie »da einfach durchgeht«.
Was noch?
Sie schminkt sich nicht mehr die Augenringe weg.
Sie hat eine Hauskatze und volle Bücherregale.
Ihr Rücken und ihre Schultern sind recht athletisch.
Sie hat eine Lieblingsapfelsorte.
Der Ring, den sie sich mit 16 von ihrem ersten Lehrlingsgehalt gekauft hat, der ist ihr so weit geworden, dass sie ihn eher auf
dem Zeigefinger trägt.
Sie trinkt zu viel Kaffee, verdrückt mehr Kuchen und Schokolade, als man ihr zutrauen würde.
Sie hat eine Schwäche für Stöckelschuhe, Lob und muskulöse Männerhände.
Sie gibt nicht auf.
Sicherlich gibt es viel über sie zu sagen, aber das, was ich bis hierher sehe, reicht mir.
Ich bin zufrieden mit ihr, sie macht das echt gut.
Ich bin zufrieden mit mir, ich mache das echt gut.
So gerne würde ich mein nur 5 Jahre jüngeres Ich - noch lieber mein 15 Jahre jüngeres Ich - in den Arm nehmen. Ihr genau das
sagen. Und dass es besser wird, dass sie das schafft.
Also greife mich mal vor, stelle mir vor, es sei 10 bis 12 Jahre später. Mein 40-jähriges Ich wüsste es ganz genau. Bestimmt wird
sie mir bestätigen, dass es jeden Tag ein bisschen leichter wird. Zu ihr ist es zweifelsfrei ein weiter Weg, aber ich freue mich darauf, sie kennen zu lernen.
Sicher ist sie ziemlich klasse! Und sie wird mir sagen: Ich bin glücklich mit dir, du machst das großartig.